Wochenabschnitt Beschalach

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"Und die Prophetin Miriam, Aarons Schwester, nahm das Tamburin in ihre Hand, und alle Frauen zogen aus, hinter ihr her, mit Tamburinen und in Reigentaenzen. Und Miriam sang ihnen vor: Singet zu G"TT, denn hoch erhaben ist ER; Ross und Reiter warf ER ins Meer!" (Schemot 15;20-21).

Wir singen nicht, wenn wir aengstlich, verzweifelt oder muede sind, oder nach einer schweren Mahlzeit. Wir singen, wenn wir Sehnsucht nach jemanden haben, den wir lieben; wenn wir Sehnsucht nach besseren Zeiten haben, wenn wir eine Leistung feiern, oder in Erwartung auf eine Offenbarung. Wir singen ferner nicht, wenn wir selbstgefaellig sind. Wir singen, wenn wir nach etwas streben, oder wenn wir Freude an etwas haben und diese in den Himmel steigen lassen wollen.

 

Zu singen heisst auch zu beten, in dem Bestreben, ueber die kleinen Sorgen des taeglichen Lebens zu steigen. Singen bedeutet aber auch Suche nach Erloesung. Der Midrasch zaehlt zehn besondere Lieder in der Geschichte des Juedischen Volkes auf - entsprechend zehn Begebenheiten, an denen das Erleben von Erloesung in Vers und Melodie seinen Ausdruck findet. Die ersten neun hiervon sind: Das Lied, welches in der Nacht des Auszuges aus Aegypten gesungen wurde (Jesajah 30:29); das Lied am Schilfmeer (Schemot 15:1-21); das Lied an der Quelle (Bamidbar 21:17-20); Mosche Rabeinu's Lied zur Vervollstaendigung der Thora-Schreibung (Dewarim 32); das Lied mit dem Joschua die Sonne zum Stillstand brachte (Joschua 10:12-13), Deborah's Lied (Schofetim 5), das Lied Koenig David's (II. Schmuel 22), das Lied zur Einweihung des Heiligen Tempels (Tehilim 30), und das Hohelied Koenig Salomo's (Schir Haschirim), welches die Liebe zwischen G"TT und dem Juedischen Volk preist.

Das zehnte Lied, so sagt der Midrasch, wird das "Neue Lied" (Schir Chadasch) heissen, und es wird zur endgueltigen Erloesung gesungen werden; dass heisst zu der Erloesung, die global und absolut sein wird; eine Erloesung, die jedes Leid, jede Ignoranz, jegliche Misgunst und jeglichen Hass vom Angesicht der Erde vertreiben wird; eine Erloesung, ein solches Ausmasses an Sehnsucht und Freude mit sich bringend, dass ein voellig "Neues Lied" - mit einer voellig neuen Instrumentierung - erforderlich sein wird, um dieser ultimativen Freude der gesamten Schoepfung eine Stimme verleihen zu koennen.

Das bislang aber bekannteste der zehn Lieder der Befreiung ist jedenfalls das "Lied am Schilfmeer" (Schirat HaYam), welches von Mosche Rabeinu und den Kindern Israel nach der Durchquerung des Schilfmeeres gesungen wurde. Dieses Lied rezitieren wir taeglich im Morgengebet, und es wird zweimal jaehrlich oeffentlich in der Synagoge gelesen, und zwar:  Am siebten Tag des Pessach-Festes (der Jahrestag der Teilung des Schilfmeeres sowie der Komposition des Liedes), sowie an einem Schabbat im Winter, an dem naemlich das "Lied am Schilfmeer" im woechentlichen Parascha-Zyklus gelesen wird - daher wird dieser Schabbat auch als "Schabbat Schira", d. h. als Schabbat des Liedes, bezeichnet.

Das Lied am Schilfmeer preist G"TT fuer seine wundersame Befreiuung der Kinder Israel, als er die Meere spaltete und die nachfolgenden aegyptischen Bedraenger in den Fluten versenkte. Das Lied beschreibt ebenfalls Israel's Sehnsucht danach, von G"TT in das gelobte Land gefuehrt zu werden, sowie dort in Seiner Gegenwart (im Heiligen Tempel) sein zu duerfen; und es endet mit der Anspielung auf die endgueltige Erloesung, wenn "G"TT auf immer und ewig regieren wird".

Tatsaechlich existieren dabei zwei Versionen des Liedes, eine maennliche und eine weibliche Version. Nachdem Mosche Rabeinu und die Kinder Israel ihr Lied sangen, "nahm die Prophetin Miriam, Aarons Schwester, das Tamburin in ihre Hand, und alle Frauen zogen aus, hinter ihr her, mit Tamburinen und in Reigentaenzen. Und Miriam sang ihnen vor: Singet zu G"TT, denn hoch erhaben ist ER; Ross und Reiter warf ER ins Meer...".

Die Maenner sangen und dann die Frauen. Die Maenner sangen, und daraufhin sangen die Frauen, mit Tamburinen und in Reigentaenzen. Die Maenner sangen - besangen ihre Freude ueber ihre Befreiung, sie besangen ihre Sehnsucht nach einer noch vollstaendigeren Erloesung - aber etwas fehlte dabei. Etwas, was nur das Lied der Frauen vervollstaendigen konnte.

Miriam, die aeltere Schwester von Mosche Rabeinu und Aaron, fuehrte die Zugabe der Frauen zum Lied am Schilfmeer an. Miriam, deren Name soviel wie "Bitterkeit" bedeutet, da  zum Zeitpunkt ihrer Geburt das Juedische Volk in die haerteste und schwierigste Phase des aegyptischen Exils ging. Miriam, die als ihr Bruder Mosche in einem Weidenkorb im Nil ausgesetzt wurde, "ihn von ferne aus beobachtete, um zu sehen was aus ihm wird". (Schemot 2:4).

Es war Miriam, die mit der Tiefgruendigkeit weiblicher Empfindsamkeit wahrhaftig die Bitterkeit der Galuth (des Exils und der Verfolgung) erlebte. Und es war Miriam, die mit der Ausdauer, der Zaehigkeit und der Zuversicht einer Frau, allein ueber den Funken Hoffnung wachte, der als kleines, zartes Wesen in einem Weidenkoerbchen den maechtigen Strom hinabtrieb; und es war Miriam, deren Wachsamkeit ueber die zukuenftige Aufgabe ihres Bruders, der eines Tages die Befreiung seines Volkes bringen wuerde, niemals ins Schwanken geriet.

Das Bild einer jungen Frau, die im dichten Schilf am Rande des Nils Ausschau haelt, und dabei die Hoffnung auf Erloesung gegen die Bitterkeit der Galuth in ihrem Herzen traegt, erweckt auch das Bild einer anderen Stammmutter - naemlich Rachel. Wie der Prophet Yirmeyahu beschreibt, ist es Rachel, die in ihrem einsamen Grab an der Strasse von Beth Lechem nach Yerushalayim um ihre Kinder weint, wie sie unter der Galuth leiden. Sie ist es, die mehr als die Stammvaeter oder andere Anfuehrer Israels, die Leiden ihres Volkes spuert; und es ist ihre Fuersprache vor dem G"ttlichen Thron, welche erst die Erloesung bringen wird.

Miriam und ihr Choral vervollstaendigten das Lied am Schilfmeer mit der emotionalen Tiefe sowie einem festen Glauben, wie er nur Frauen inne wohnt. Ihr Empfinden von der Bitterkeit der Galuth war wesentlich intensiver als das der Maenner, dennoch waren ihr Glaube und ihre Zuversicht staerker und ausdauernder. Ihre Sehnsucht nach Erloesung war viel nachhaltiger, genauso wie ihre Freude ueber deren tatsaechliches Eintreten sowie ihr Streben nach einer noch vollstaendigeren Erloesung.

Der bedeutende Kabbalist Rabbi Itzhak Luria schreibt, dass die letzte Generation vor dem Erscheinen von Maschiach eine Wiedergeburt der Generation sein wird, die unter Mosche Rabeinu aus Aegypten auszog.

Heute, da wir an der Schwelle der endgueltigen Erloesung stehen, sind es einmal wieder die Frauen, deren Lied am eindringlichsten, deren Tamburin am hoffnungsvollsten und deren Tanz am freudigsten ist. Heute wie damals wird die Erloesung durch den Verdienst der rechtschaffenen Frauen erzielt werden. Heute wie damals, ist es die Sehnsucht der Frauen nach Maschiach - eine Sehnsucht, die tiefer reicht als die der Maenner - welche den Ton angibt in der anklingenden Melodie der Erloesung.

* basierend auf den Lehren des Lubavitscher Rebben.


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